Montag, 24. Oktober 2011

Muss ich mich selbst geißen?

Es ist Sonntag Abend zwischen 19 und 20 Uhr, in Deutschland sitzen gerade 5,3 Millionen Menschen vor ihren Rundfunkempfangsgeräten, welche alle auf die selbe Frequenz eingestellt sind und beobachten ein Phänomen. Um es vorweg zu nehmen: Es findet kein Spiel der deutschen Nationalmannschaft statt.

In fast gleichem Maß, wie es ein Volkssport leistet, vermag eine Erscheinung die Bevölkerung unseres Landes in den Bann zu ziehen. Auch gestern Abend wird diese dem erfolgreichsten deutschen Privatsender wieder Top-Quoten eingebracht und Sendungen, in denen momentan dringlichere Aspekte, wie Finanz- und Bankenkrise, thematisiert werden, in den Hintergrund gedrängt haben. Vor etwa einer Dekade trieb das Phänomen des Voyeurismus die Menschen vor die Bildröhren, heute zieht eine höhere Form dieser Sucht des Beobachtens ganze Bevölkerungsteile vor ihre LCD- und Plasmascreens: das Fremdschämen.

In Sendungen, wie "Schwiegertochter gesucht", "Das Model und der Freak" oder "Bauer sucht Frau" bildet dies die Gravitation der Massen und hält sie während einer gesamten Staffel in ihrer Umlaufbahn. Die Peinlichkeiten, denen sich die zur Schau Gestellten aussetzen müssen sowie die oftmals vorhandene geringe zerebrale Konfiguration lässt in vielen Zuschauern wohl das Gefühl aufkeimen, dass es sie auch noch schlimmer hätte treffen können. Oder aber sie holen sich die wöchentliche Bestätigung der absoluten intellektuellen Überlegenheit gegenüber anderen. Anders lässt sich die auf die Masse wirkende Beschleunigung Richtung Fernseher zu jenen Sendezeiten nicht erklären.

Bis hier hin kein Problem. Immerhin sind wir heute in der glücklichen Lage bei Nichtgefallen per Infrarot den Sender zu wechseln, ohne auch nur mehr als 3kcal Energie zu verbrauchen. So können alljene, die sich dieser (Fremd-)Scham nicht aussetzen wollen, weil bei ihnen die eigentliche Funktion des Schämens noch wirkungsvoll ist, dieser seelischen Peinigung entziehen. Und dieses Vorgehen ist auch sinnvoll. Der Psychoanalytiker Erik Erikson bezeichnet Scham in seinem Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung als gegen das Ich gerichteten Zorn. Daraus ergibt sich die Perfidität des Fremd-Schämens.

Aus welchem Grund sollte ich bedingt durch Verhaltensweisen völlig fremder Menschen auf mich selbst wütend sein?

Es gibt keine sinnhafte Erklärung, weshalb ich mich dieser Autoschändung aussetzen sollte. Solch freiwillige Selbstkasteiung kennt man nur von religiösen Fanatikern, zu denen wohl kaum über 5 Millionen Menschen in Deutschland gehören können. Letztlich wird die treibende - besser anziehende - Kraft wohl doch aus dem Gefühl der eigenen intellektuellen und sozialen Überlegenheit entspringen, welches nicht jedem all zu oft im Alltag begegnet.

Der Geist holt sich, was er braucht.

Interessant in diesem Zusammenhang wäre die Durchführung einer Studie, welche klärt, inwiefern die Ausstrahlung fremd-schäm-intensiver Sendungen die Inzidenz von Depressionen verhindert. Man erinnere sich in paar Jahren an diesen Post, wenn es die 8. Staffel "Bauer sucht Frau" auf Rezept in der Apotheke zu kaufen gibt!